Textatelier
BLOG vom: 25.04.2021

ALLER WELT ANGST

Autor: Wernfried Hübschmann, Lyriker, Essayist, Hausen im Wiesental

 

Über unsere fürchterliche Furcht vor der Angst

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Was genau ist Angst?

Angst ist das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit. Als gefühltes Wissen von der Endlichkeit unseres irdischen Seins nennen wir es „Furcht“. Auch Tiere kennen Angst, reagieren höchst sensibel auf Gefahren, unbekannte Geräusche, Fressfeinde und Rivalen. Das Prinzip des Überlebens steht evolutionär im Vordergrund. Doch nur der Mensch verfügt über jene spezifische Bewusstheit, die es ihm erlaubt, seine (natürliche) Angst als Angst wahrzunehmen, sie zu beobachten, zu reflektieren und in diversen Formen als (kulturelle) Furcht zu bändigen, zu sublimieren, zu rationalisieren, zu ritualisieren: als Sorge, Fürsorge, Daseinsvorsorge (z.B. im Phänomen der „Versicherungen“), als empathische Zuwendung, als soziale Verantwortung, als präventives politisches Handeln. Man lese den für öffentliche Ämter verpflichtenden Eid oder die entsprechenden Formeln für politische Aufgaben in der Schweiz, die nicht umsonst „Eidgenossen“ sind. Das Versprechen, „Schaden vom Volk abzuwenden“ impliziert die Verantwortung, sich möglichen künftigen Gefahren im Inneren und Äußeren schützend entgegenzustellen, soweit das mit politischen Mitteln möglich ist. Die fragwürdige ultima ratio des Umgangs mit Angst ist der Krieg, gegen reale und vermutete Feinde, gegen Krankheiten (Viren) und Krisen (z.B. des Finanzsystems, des ökologischen Systems.)

 

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Angst ist weder „gut“ noch „schlecht“.

Angst ist einfach ein wichtiges evolutionäres Erbe. Im Kern ist jede Form der Angst Todesangst. Anders wäre unser Stress vor dem Gespräch beim Chef nicht zu verstehen. Obwohl wir wissen, dass wir das Büro lebend verlassen werden, reagiert uns Körper „als ob“ wir in Lebensgefahr wären. Es gibt Menschen, die Angstsituationen ausdrücklich suchen, als psycho-biologischen Kick, im bungee jumping, in den Fahrgeschäften der großen Vergnügungsparks oder in raffinierten virtuellen Kampf- und Überlebensspielen, die das Internet inflationär (play station) zur Verfügung stellt für Menschen, denen ihr Alltag nicht aufregend genug ist. Oder im Kampf um Kunden, Kohle und Karriere. Stets werden Glückshormone ausgeschüttet, wenn wir erstaunt feststellen: Hoppla, wir (über)leben! Angst ist keine moralische Kategorie, sie ist weder „gut“ noch „schlecht“. Wir selbst bestimmen, ob und wie wir mit ihr im Alltag umgehen.

 

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Welche „Funktion“ hat Angst?

Das Phänomen Angst hat primär eine evolutionsbiologische Aufgabe bzw. Funktion: es sicherte uns das Überleben, indem unsere Vorvorfahren auf lebensweltliche Gefahren angemessen reagiert haben. Durch Kampf (Angriff oder Verteidigung), Flucht (Wegrennen, sofern möglich) oder Totstellen (also Verstecken, Paralyse, Stillhalten). Alle drei archaischen Varianten lassen sich heute noch in jedem Büro hervorragend beobachten. Angst lässt sich also beschreiben als physiologisches Warnsystem, das durch Ausschüttung des körpereigenen Hormons Adrenalin, durch maximale Wachsamkeit und Bereitschaft (erhöhter Blutdruck, erhöhte Muskelspannung) zu körperlicher Leistung das eigene (Über)Leben sichern soll. Angst ist also sinnvoll. Sie trägt wesentlich dazu bei, Gefahren zu erkennen, zu vermeiden oder sich gar nicht erst „in Gefahr“ zu begeben. Angst ist der anthropologisch notwendige Pfad der Vernunft zu einem beschützten, geordneten und langen Leben. Allerdings erst, wenn zum „Reflex“ die Reflexion kommt, zur Konditionierung die Kognition, also die Überlegung.

 

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„Brauchen“ wir die Angst?

Ja, sie ist lebenswichtig. Freilich sind die Situationen, in denen wir nur körperlich reagieren können, extrem selten. In der modernen Zivilisation reduziert sich die Zahl der realen Gefahren auf ein Minimum. Unser physisches Überleben ist nicht mehr jeden Tag gefährdet. Wir bewohnen sichere Häuser, haben Blitzableiter, einbruchsichere Fenster, schnallen im Auto die Sicherheitsgurte um und trachten danach, durch diverse Versicherungen unser Leben von Gefahren fernzuhalten. Unsere Instinkte und Reflexe sind dadurch nicht überflüssig, bedürfen aber einer Transformation, damit sinnvolles, konstruktives Verhalten entsteht. Es geht darum, die „erlernte Unfähigkeit“ des reflexhaften Handelns zu verwandeln:

Archaisches Muster
(evolutionäres Erbe)

Transformation
(kulturelles Lernen)

Kampf, also Angriff  oder Verteidigung, Überlebensmodus, andauernd hohes Stresslevel (Adrenalin)

Spiel, also freie Interaktion, daraus dann Regeln und Vereinbarungen zwischen den Individuen und Gruppen

Flucht, also Weglaufen, Verlassen der Situation, Ver- meidungsverhalten

Innehalten, also Stehenbleiben, Standhalten, Reflektieren, dann Agieren

Totstellen, also so tun, als sei man nicht da, „Drei Affen“, Vogel-Strauß-Politik

Ins-Handeln-Kommen, also sich- Lösen aus der Starre, erste, vorsichtige Schritte ins Neuland


Das Erben der Evolution, das wir alle teilen, ist also die Voraussetzung, aber kein „Schicksal“. Die Aufgabe besteht darin, durch individuelles und gemeinsames Lernen aus den archaischen Mustern herauszufinden, die – für sich genommen – heute alle nicht mehr tragfähig, konstruktiv und erfolgreich sind.

 

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Auswirkungen der Angst

Hinzu kommt, dass sich unsere Lebenswirklichkeit in den letzten drei bis vier Jahrhunderten rasant verändert hat. Wir haben uns von der äußeren Natur und unserer eigenen Natur weitgehend entfremdet. Daher sind wir von realen Gefahren (z.B. nachts im Wald oder Hochgebirge, im Entscheidungsstress) schlicht überfordert. Unsere „Resilienz“ (Krisenfestigkeit und Ver- änderungskompetenz) ist nicht ausreichend entwickelt. Wir fürchten uns vor der Zukunft, vor Krankheiten oder Arbeitsplatzverlust etc. Unser Angstsystem schlägt auch dort an, wo wir, nüchtern betrachtet, nicht in (Lebens)gefahr sind. Und an anderer Stelle, z.B. bei der existenzbedrohenden Ausbeutung der Ressourcen, ist das moralische Frühwarnsystem stumpf. Wir haben verlernt, Gefahren als evolutionäre Bedingung in unser Leben zu integrieren. Wir wollen alle Gefahren vermeiden und möglichst rundum in Watte gepackt leben. Wir weigern uns zu akzeptieren, dass nicht alle Risiken „beherrschbar“ sind. Und vor allem weichen wir der Beschäftigung mit dem Tod aus, die erst das Leben in ein anderes Licht setzen würde.

 

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Angst ist politisch

Das  führt  dazu,  dass  wir  das  Virus  „bekämpfen“  oder  gar „besiegen“ wollen (Emmanuel Macron sagte Anfang April 2020:
„nous sommes en guerre“ = Wir sind im Krieg), anstatt uns zu fragen, welche selbst geschaffenen Bedingungen zu seiner Ausbreitung geführt haben. Oder Politiker geben vor, „die Folgen des Klimawandels bekämpfen“ zu wollen. Und übersehen, dass ihre „Kriegserklärung“ sich gegen den Menschen richtet, der die Ursache der Malaise ist. Und was genau ist mit Klimawandel gemeint? Und was heißt hier „bekämpfen“? Virus oder Wandel sind nur die Symptome. Die Krankheit selbst hat einen anderen Namen: Mensch.

 

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Von der Angst lernen

Wir haben gesehen, dass die Angst uns im psychologischen Sinn eine zentrale Aufgabe stellt, nämlich: sich ihr (der Angst) zu stellen. Die genannten Beispiele sollen verdeutlichen, dass das Phänomen „Angst“, wie wir gesehen haben, immer auch eine politische Komponente hat, verstärkt durch die mediale Überpräsenz der Berichterstattung zu den genannten angstauslösenden Themen. Es ist leicht einzusehen, dass die „Abwehr“ (Verdrängung, Verzerrung, Leugnung) von Angstgefühlen eher zu Neurosen, Depressionen oder anderen ernsten Schwierigkeiten führt. Welche Schlussfolgerungen lassen sich also ziehen, individuell, für Familie, Freunde und Beruf, für das gesellschaftliche Miteinander?
Nun, wir müssen uns der Angst stellen. Dem, was sie auslöst in uns. Angst lässt sich nicht besiegen und bekämpfen, sondern wir sind aufgerufen, sie zu befrieden und integrieren.
Wir müssen sie „anschauen“, erleben, als Element der conditio humana akzeptieren und sie durch Arbeit am Ich und durch kulturelle Tätigkeit einbinden in die eigene Existenz. Die Angst (als primäre Emotion) liefert uns wichtige Informationen über Bedrohungen  und  Gefahr.  Was  aber,  wenn  es  kaum  noch „echte“ Gefahren gibt. Unser Gehirn kann diese Unterscheidung nicht treffen. Es reagiert immer mit den gleichen Mechanismen des Stressverhaltens. Die Entscheidung, was tatsächlich als Gefahr  erkannt  und  gebannt  werden  muss  und  was  eine „erfundene“ (fiktive) Gefahr, also ein „Risiko“ ist, diese Entscheidung können nur Verstand, Vernunft und Erfahrung treffen.

 

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Schmerz ist unvermeidlich

Die Tatsache, dass im Leben Schmerz unvermeidlich ist, dass Krankheiten zum Aufbau eines Immunsystems unerlässlich sind und vor allem, dass wir alle sterben werden, diese Tatsachen sind unabwendbar. Es hilft unserer psychischen Gesundheit, wenn wir sie nicht tabuisieren, sondern reflektieren, besprechbar machen und integrieren in unser Bewusstsein von Ich, Welt und Mitwelt. Und von „Nachwelt“.
Der Umgang mit Angst und Ängsten ist stark geprägt von unserem Bild von der Endlichkeit der diesseitigen Existenz. Wer vor dem Tod Angst hat, hat auch im Leben Angst. Je intensiver wir uns mit den eigenen Ängsten auseinandersetzen, desto größer die Chance, auch die große Angst nicht als Bedrohung des Lebens, sondern als Element eines erfüllten Lebens zu begreifen.

 

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Das Glücksversprechen der Aufklärung

Nun hat uns freilich das von Immanuel Kant (später von Marx und in der Folge von der Glücks- und Vergnügungsindustrie) versprochene „gute Leben“ dazu geführt, dass wir immer länger leben, nicht mehr krank sein wollen, eine vom Staat abgesicherte Gesundheitsvorsorge erwarten und dafür möglichst wenig Eigenleistung (abgesehen von den Versicherungsprämien) erbringen möchten. Es missfällt uns, von Hedonismus, Luxus und sozialer Versorgungsmentalität Abschied nehmen zu müssen. So wird auch die „Normalität“ der Epoche vor Corona nicht zurückkommen. Und ob eine neue Normalität möglich sein oder überhaupt wünschenswert wäre, ist zumindest fraglich. Klar ist: Wir müssen umdenken, umfühlen, umhandeln.

 

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Für ein neues Selbstverständnis

Denn genau darum geht es: um Verzicht und Umdenken: um Verzicht auf materielle Güter, die angeblich zu unserem Glück nötig sind. Die moderne Zivilisation hat uns einen Lebensstandard ermöglicht, von dem wir wissen, dass wir ihn nicht werden halten können. Die im 21. Jahrhundert geborenen Kinder werden es vielleicht nicht automatisch „besser“ haben als ihre Eltern und Großeltern. Das war ja das moralische Mantra der Generationen nach 1945: „Du sollst es einmal besser haben als wir.“ Es hat seine Gültigkeit längst verloren. Unsere Kinder, Enkel und Urenkel werden sich um den Erhalt ihrer Lebensbedingungen sorgen müssen. Das Glücksversprechen der späten Zivilisation war „heillos“, es hat kein Glück gebracht, sondern eine unvorstellbare Ausbeutung und Missachtung der Erde und ihrer natürlichen Gaben.

Ein neues Selbst-Verständnis des Menschen, seiner Rolle innerhalb der Schöpfung ist nötig. Ein neues Verhältnis zur Natur zu formulieren, ist unumgänglich und wird bereits entwickelt und gepflegt. Und unser innerer Ort gegenüber den transzendenten und religiös-spirituellen Themen, Ideen und Praktiken muss neu justiert werden.

Dann wird es immer noch „Angst“ geben.
Aber wir werden sie nicht mehr fürchten müssen.

 

Ihr
Wernfried Hübschmann
www.wernfried-huebschmann.de

 

(Im April 2021)

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